VDE
29.03.2021

Energieversorgung neu denken! - Planung zellularer Energiesysteme

Nachbericht zum VDE Bayern Online Fachforum "Planung zellularer Energiesysteme", mit dem die gleichnamige Arbeitsgruppe im VDE ETG Fachausschuss „Zellulare Energiesysteme“ den Stand der Themenbearbeitung vorstellte.

Collage zu erneuerbaren Energien
Massimo Cavallo / Fotolia

Der Umbau unserer Versorgung mit Strom, Gas, Wärme und Mobilität ist in vollem Gange. Zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte haben gezeigt, wie eine, von dezentraler und regenerativer Erzeugung geprägte Energieversorgung effektiv und wirtschaftlich gestaltet und sicher betrieben werden kann. Es war nun an der Zeit, die Erkenntnisse und Lösungen aus diesen Vorprojekten zusammengefasst und aufbereitet in die Breite zu tragen, um die Energieversorgung neu zu denken!

Mit seinem VDE Bayern Online Fachforum „Planung zellularer Energiesysteme“ stellte die gleichnamige  Arbeitsgruppe im VDE ETG Fachausschuss „Zellulare Energiesysteme“ am 23. Februar 2021 den Stand der Themenbearbeitung vor und bot die Plattform für den Erfahrungs- und Wissensaustausch. Der Blick in die Teilnehmerliste bestätigte die Zielsetzung, dass sich Wissenschaftler, Fachleute und Spezialisten aus Forschung und Entwicklung, aus Wirtschaft und Industrie, aus Energieversorgungsunternehmen sowie den Verbänden zu diesem Anlass miteinander vernetzten und diskutierten.

"Wir freuen uns über das positive Feedback zu diesem VDE Bayern Online-Fachforum mit knapp 100 Anmeldungen und wichtigen Impulsen aus dem VDE Nordbayern. Zunächst als Präsenzveranstaltung vorgesehen, „funktionierte“ das Konzept auch als virtuelle Veranstaltung und steht damit als gelungenes Beispiel für die Stärke des VDE und seiner ehrenamtlichen Expertinnen und Experten in den Fachgesellschaften und Bezirksvereinen: Wir sind der neutrale, technisch-wissenschaftliche Partner für Forschung, Industrie, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft!", so Peter Rief, Leiter des VDE Bayern in seinem Schlusswort.

Inhalte und Referenten

Im ersten Teil standen die Themen, die eine Transformation heutiger Energiesysteme hin zu einem zellularen Verbund theoretisch beschreiben, im Focus:

Silvan Rummeny: Einführung "Zellulare Energiesysteme"

Silvan Rummeny, Promovend und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TH Köln eröffnet die Vortragsreihe mit seinem Vortrag „Einführung zellulare Energiesysteme“.

Er vergleicht das Energiesystem der Vergangenheit mit einer zentralen Erzeugerstruktur, monodirektionalen Energieflüssen und zentraler Steuerung mit dem Energiesystem der Gegenwart gekennzeichnet durch zunehmender dezentraler Energieerzeugung, bidirektionalen Energieflüssen aber auch "noch" zentraler Steuerung. Anschließend beschreibt er Entwicklungsperspektiven zum Übergang in die Zukunft hin zu Energiezellen. Hier wird die Erzeugung in Energiezellen dezentral verteilt sein, bidirektionale Energieflüsse verbinden die Energiezellen und Zellenmanager als Steuerungssysteme arbeiten mit übergeordneten Steuerungssystemen zusammen, um die notwendige Systemstabilität sicherzustellen. 4 Fragen führen hin zur Theorie der zellularen Energiesysteme.

  •  Was ist eine Energiezelle?
  •  Was ist ein zellulares Energiesystem?
  •  Warum ist ein zellulares Energiesystem versorgungssicherer?
  •  Warum ist ein zellulares Energiesystem solidarisch?

Punkt für Punkt beantwortet Silvan Rummeny die 4 grundlegenden Fragen in seinem Vortrag. Am Ende steht die Erkenntnis, es braucht weiterentwickelte Regelwerke, flexible und differenzierte Anreize und Eigeninitiative um die Energiewende schnell, kosteneffizient und flexibel anpassbar mit zellularen Energiesystemen voranzubringen.

Josef Bayer: Leitfaden für die Planung Zellularer Energiesysteme - Aktueller Stand und Ausblick

Josef Bayer, Sprecher der VDE ETG Arbeitsgruppe „Planung zellularer Energiesysteme“ berichtet im Vortrag „Leitfaden für die Planung Zellularer Energiesysteme - Aktueller Stand und Ausblick“ über die Arbeitsergebnisse der VDEETG Arbeitsgruppe und gibt einen Ausblick über den möglichen strukturellen Aufbau eines sicheren zellularen Energiesystems.

Zielsetzung der AG ist es den Planungsprozess für Energiezellen und zellulare Energiesysteme zu beschreiben und Planungsrichtlinien zu erarbeiten. Im Ergebnis soll ein Leitfaden für die Planung von Energiezellen und zellularer Energiesysteme entstehen. Die Planung wird als Kreisprozess mit 4 Stufen aufgefasst:

  • Zieldefinition
  • Bestands- und Potentialanalyse
  • Rahmenbedingungen, Design und Simulation
  • Umsetzung und Betrieb

Die Entwicklung einer Energiezelle selbst ist ein additiver Kreisprozess in einzelnen Ausbauschritten mit stetiger Annäherung an das Optimum der Zielfunktion. Um auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren zu können, sollten mit jedem Entwicklungsschritt die Optionen zunehmen, die es ermöglichen, den Ausbau und die Weiterentwicklung des zellularen Energiesystems flexibel anzupassen.

Im zweiten Teil seines Vortrags stellt Josef Bayer grundlegende Prinzipien zum Design vor:

  • Zellulare Energiesysteme müssen auch bei eingeschränkter Kommunikation zwischen einzelnen Zellen weiterbetrieben werden können.
  • Für das Funktionieren zellularer Systeme ist die Art und Weise wie die einzelnen Elemente und Zellen zusammenarbeiten entscheidend.
  • Auf zellulare Energiesysteme lassen sich Regeln der Schwarmtheorie anwenden.

Mit 3 Axiomen schließt der Vortrag:

  • Versuche den Energiefluss innerhalb deiner Zelle/Zellcluster auszugleichen.
  • Unterstütze wenn möglich benachbarte und übergeordnete Zellen/Zellcluster.
  • Wenn die Unterstützung benachbarter Zellen/Zellcluster nicht ausreicht schütze dich selbst.

Martin Stiegler: Der Zell-Manager / Rollen, Aufgaben und technisch-wirtschaftliche Optionen

Der nachfolgende Beitrag „Der Zell-Manager / Rolle, Aufgabe und technisch-wirtschaftliche Optionen“ von Martin Stiegler, Geschäftsführer PSI GridConnect GmbH beschließt den theoretischen Teil des Fachforums.

Einleitend wird das Prinzip der Netzautomatisierung vorgestellt und mit einem Vergleich zum autonomen Fahren beschrieben. Es werden 6 Autonomiestufen (von 0 = keine Automatisierung bis 5 = Vollautomatisierung) für den automatisierten Netzbetrieb definiert und die Reichweichte der einzelnen Stufen spezifiziert. Mit der Netzautomatisierung sollten die folgenden Grundsätze verfolgt werde:

  • Was dezentral erzeugt wird soll möglichst dezentral genutzt werden.
  • Flexibilitäten zuerst für Engpässe in der eigenen Netzebene nutzen.

Die Aufgabe des Zell-Managers ist u.a. die Datenverarbeitung für Steuerungs-, Regelungs- und Optimierungsaufgaben. Dabei werden auf Grundlage von Eingangsinformationen entsprechende Ausgangsinformationen ermittelt. Der Zell-Manager kann horizontal mit anderen Zell-Managern in seiner Verarbeitungseben bzw. auch vertikal mit übergeordneten und untergeordneten Zell-Managern interagieren. Typische Einsatzbeispiele sind netzdienliche, systemdienliche, marktorientierte und anlagenorientierte Anwendungen. Simulations- und Anwendungsbeispiele veranschaulichen die Wirkungsweise des Zell-Managers.

Am Ende stehen grundsätzliche Feststellungen wie:

  1. Ohne Digitalisierung keine Energiewende.
  2. Es gibt ein breites Einsatzfeld für Zellmanager.
  3. Zellmanager leisten einen hohen Betrag zur Netzautomatisierung und zur Resilienz.
  4. Schnelle Innovationsgeschwindigkeit der Digitalisierung treffen auf Jahrzehnte ausgerichtete Investitionszyklen für Netzinfrastruktur

Der zweite Teil des Fachforums zeigte Planungs- und Umsetzungsbeispiele aus der Praxis:

Josef Bayer: Energiezelle Max Bögl - Praxisbeispiel für die Transformation eines Industrienetzes in eine Energiezelle

Josef Bayer beschreibt in seiner Funktion als Head of Research & Development Energy Systems in der Firmengruppe Max Bögl in seiner Präsentation „Energiezelle Max Bögl“  die Entwicklungsstufen des Industrienetzes der Firma Max Bögl auf dem Weg hin zu einem innovativen Energienetz, dass eine kostengünstige, sichere und CO2 neutrale Energieversorgung des Industriestandortes sicherstellt.

Der Entwicklungsprozess startete mit der Ertüchtigung und Modernisierung des Stromnetzes. In anschließenden Schritten wurde Eigenerzeugungsanlagen, wie WEA und PVA für die Optimierung der Energieverbrauchskosten eingebunden sowie eine Leitwarte zum Überwachen und Managen der Energieflüsse aufgebaut. Ein Batteriespeicher der 2,5‑MW‑Klasse sorgt für einen Lastspitzenausgleich und kann Netzdienstleistungen für Energieversorgungsunternehmen bereitstellen.

Aktuell läuft das Forschungsvorhaben INZELL, mit dem die Funktionsweisen und Betriebsparameter für einen Inselbetrieb des Industrienetzes untersucht und praktisch getestet werden soll. Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass Industriebetriebe mit einer zellularen Energieversorgung im gesamten Energieversorgungssystem einen wichtigen Beitrag zur Systemstabilisierung, zum Netzwiederaufbau und zur Notbetriebsversorgung leisten können.

Rainer Kleedörfer: „Der zellulare Ansatz der N-ERGIE – ein Praxisbeispiel“

Rainer Kleedörfer, Leiter des Zentralbereichs Unternehmensentwicklung bei der N-ERGIE, beginnt seinen Vortrag „Der zellulare Ansatz der N-ERGIE – ein Praxisbeispiel“ mit Hinweisen auf unsere Klimaschutzziele zur Einsparung von CO2-Emissionen und zum Primärenergieverbrauch, bei dem die Erneuerbaren als einzige eine steigende Tendenz zeigen.

Für die Europäische Metropolregion Nürnberg (EMN) wurde ein ganzheitliches Maßnahmenpaket für Gebäude, Energie und Verkehr mit der systematischen Bearbeitung von 9 Themenfeldern erarbeitet, dessen Umsetzung die Erreichung der Klimaschutzziele 2030 sicherstellt. Es wird gezeigt, dass die Sektorenkopplung Strom – Wärme – Verkehr und die Nutzung von Flexibilitäten den Stromnetzausbaubedarf reduzieren kann. Bei den Zukunftsprojekten „eBus Port“ und „Parkhaus der Zukunft“ werden die Grundsätze von zellularen Energiesystemen konsequent angewendet. Für die Umsetzung muss aber auch die Rahmengesetzgebung sektorenübergreifend passen. Hier ist die Politik gefragt. Der Vortrag endet mit der Erkenntnis: „Dezentrale und lokale Energiewende ist machbar!“

Dr. Rainer Saliger: Methodik für Planung und Realisierung zellularer Energiesysteme

Dr. Rainer Saliger, zuständig für Dezentrale Energiesysteme bei Siemens AG Deutschland, stellt am Anfang seines Vortrages „Methodik für Planung und Realisierung zellularer Energiesysteme“ die Masterfrage nach der zukünftigen Energieversorgung in zellularen Energiesystemen:

„Wie ermöglichen dezentrale Erzeugungseinheiten wie KWK und PV eine günstigere Energieversorgung bei gleicher oder verbesserter Zuverlässigkeit?“. Weitere Fragen leiten sich davon ab. Der Siemens Planungsprozess für Energiezellen umfasst 5 Schritte - Systemdefinition, Erzeugungsanalyse, Netzanalyse, Versorgungssystemanalyse und Umsetzungsplan. Als Referenzprojekte wurden die „Energetische Modernisierung“ des Siemenswerks in Krefeld und die „Autarke Wasserversorgung im Inselnetz“ bei den Stadtwerken Haßfurt vorgestellt. Aktuell entsteht am Energiepark Wunsiedel ein Leuchtturmprojekt der Sektorenkopplung – aus CO2-freiem Strom soll „grüner“ Wasserstoff für Industrie und Mobilität wirtschaftlich erzeugt werden. Dafür wird Siemens AG eine schlüsselfertige PEM Elektrolyse-Anlage liefern und 2022 in Betrieb setzen.

Dr. Michael Stadler: Anwendungsbeispiele und Planungskonzept auf Basis des zellularen Energiesystem

Dr. Michael Stadler, technischer Geschäftsführer von Xendee Corporation und wissenschaftliche Leitung/Key Scientist für Microgrids bei der BEST GmbH in Österreich. Er ist zugeschaltet von der Westküste der USA. In seinem Vortrag „Anwendungsbeispiel und Planungskonzept auf Basis des zellularen Energiesystem“ spricht er über die ganzheitliche Planung und den Betrieb von Micro Grids oder auch Energiezellen.

Der erste Planungsschritt, das einfache Design zur Festlegung einer Zielfunktion, umfasst ein Datenerhebung und das Zusammenstellen von Randbedingungen, darunter technische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie mögliche Technologien, die in der Energiezelle zur Anwendung kommen. Das fortgeschrittene und detaillierte Design ist notwendig, um getroffene Festlegungen und erste Ergebnisse noch genauer zu beschreiben und zu optimieren. Xendee ist dafür das Werkzeug, das alle Phasen des Designprozesses von Micro Grids auf intelligente Art und Weise integriert und umfangreiche Simulationen für eine Optimierung zulässt. An einem realen Beispiel für eine kleine Zelle – existierender Bürokomplex und neues Feuerwehrhaus – wir die praktische Handhabung des Cloud basierten Computerprogramms demonstriert. Am Ende ergeben sich neben einer Reduktion der Netzbelastung auch Kosteneinsparungen.

Zum Abschluss des Fachforums moderiert Gunnar Braun, Geschäftsführer im Verband kommunaler Unternehmen e.V. eine Frage- und Antwortrunde mit den Referenten. Fragen aus dem Podium und dem Chat werden durch die Referenten erörtert und beantwortet.

Von: Uwe Welz, Bayernwerk AG, Mitglied der VDE ETG Arbeitsgruppe "Planung zellularer Energiesysteme"

Resümee

Mit einem zellularen Energiesystem können wir das Potential der erneuerbaren Energien optimal und schnell in unser jetziges Energiesystem integrieren. Durch den neuen Ansatz der Systemarchitektur können die Vorteile regenerativer Energien bestmöglich genutzt und die Herausforderungen durch die volatilen Energieflüsse nicht nur beherrscht werden, sondern daraus ein noch resilienteres Energiesystem entstehen, als wir es jetzt haben. Das Wissen über die Funktionsweise und Besonderheiten von zellularen Energiesystemen muss jedoch noch weiter zu den Planern und Entscheidern transportiert werden.

Wichtig sind dabei Rahmenbedingungen, welche den lokalen und regionalen Energieaustausch ermöglichen und fördern. Mit den geeigneten Leitplanken für eine zellulare Systemarchitektur, wie sie derzeit von der Energietechnischen Gesellschaft im VDE (ETG) und vielen weiteren Akteuren entwickelt werden, entsteht ein sicheres, CO2 neutrales Energiesystem der Zukunft.

Josef Bayer, Sprecher der VDE ETG Arbeitsgruppe „Planung zellularer Energiesysteme“